Verblasste Spuren

Obermayer German Jewish History Award 2015 

Gedanken zum Shoah-Gedenktag 2021

MargaretheHansOronowiczIn den letzten Jahren habe ich zum Shoah-Gedenktag stets ein Foto von mir und dem Hashtag #WeRemember gepostet. Ich bekam vor kurzem aber ein Foto, welches aus meiner Sicht in diesem Jahr symbolisch für alle Shoah-Opfer – gerade aus dem Altenburger Land – stehen soll. Warum? Das Foto zeigt aus meiner Sicht den ganzen Irrsinn der nationalsozialistischen Ideologie, den ganzen unwiederbringlichen Verlust, den Schmerz.

Das Foto zeigt Margarete und Hans Naftali Oronowicz – zwei glückliche Altenburger Kinder. Margarete war Jahrgang 1930, ihr Bruder Hans Jahrgang 1931. Sie gehörten zu dem liebevollen Elternhaus von Markus und Regina Oronowicz und hatten noch drei größere Geschwister: Wanda (geboren 1923), Charlotte (1924) und Leo Nathan (1925). Die beiden Geschwister, die sich sichtlich gut verstanden, wurden in der Familie liebevoll „Hänsel und Gretel“ genannt. Als die Nationalsozialisten die Macht an sich rissen, hatten sie nicht einmal das zweite bzw. dritte Lebensjahr vollendet. Sie waren acht bzw. sechs Jahre alt, als die Familie am 28. Oktober 1938 ohne Vorwarnung zu Hause verhaftet und interniert, nach Leipzig geschafft und über die deutsch-polnische Grenze bei Beuthen abgeschoben wurde. Drei Tage später waren sie zurück in Altenburg, weil man sie in Polen nicht aufnehmen wollte. Noch einmal zehn Tage später – während der Pogromnacht – wurde der Vater am frühen Morgen aus dem Bett geholt und erneut verhaftet, wurde nur entlassen unter der Verpflichtung, das Land zeitnah zu verlassen. Margarete war neun, Hans noch sieben Jahre alt, als der Familienvater die Wohnung in der Pauritzer Straße 27 verließ, um in Polen oder weiter im Osten eine sichere Bleibe zu finden. Damals wussten sie nicht, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihren Vater sehen. Und auch Charlotte verließ 1939 die Familie: sie hatte die Chance, mit einem Kindertransport nach England zu gelangen. Am 5. Mai 1939 kamen Hans und Margarete Oronowicz in das Jüdische Kinderheim Leipzig – sie konnten nun nicht einmal mehr bei ihrer Mutter bleiben. Wanda arbeitete als Bedienung in einem jüdischen Restaurant in Leipzig, bevor sie sich ab 1940 in einem Hachschara-Lager auf die Ausreise in das Gelobte Land vorbereitete. Auch Wanda sollten „Hänsel und Gretel“ nie mehr wiedersehen. Bruder Leo nutzte um 1940 ebenfalls die Möglichkeit, ein Hachschara-Lager zu besuchen. Als Margarete und Hans am 9. Mai 1942 aus dem Jüdischen Kinderheim Leipzig nach Hause entlassen wurden (Margarete war zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, Hans zehn), konnten sie zwar ihre Mutter und Bruder Leo wieder in die Arme schließen, der Grund für die Rückkehr war aber kein Grund der Freude: Am folgenden Tag wurden Regina, Leo, Margarete und Hans Oronowicz in das Ghetto Belzyce (bei Lublin) deportiert. Jeder von ihnen wurde noch im selben Jahr ermordet, vielleicht sogar gleich nach der Ankunft. Vielleicht hat Hans noch seinen elften Geburtstag erreicht. Schwester Wanda war kurz vor der Deportation der Familienmitglieder in Altenburg in ein Arbeitseinsatzlager in Paderborn gekommen. Am 2. März 1943 wurde sie nach mit 546 anderen Leidensgenossen nach Auschwitz deportiert und dort am folgenden Tag ermordet.

Das Foto stammt von Charlotte „Lottie“ Gradman (Oronowicz). Es ist eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ihr von ihren Lieben geblieben sind. Denn neben ihr hatte nur ihr Vater überlebt. Er hatte Zwangsarbeit erlebt und war aus dem Lager geflohen, hielt sich versteckt und wurde 1944 von sowjetischen Truppen befreit. Er gründete nach dem Krieg eine neue Familie und starb recht jung: 1955 schied er aus dem Leben. Charlotte Gradman starb 2009 in Israel.

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